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Zeitreise in die Vergangenheit: Kinder haben Pflichten

Das „Jüdische Nachrichtenblatt“ schreibt in seiner Ausgabe von Freitag, den 12. September 1941 auf der Titelseite: Kinder haben Pflichten. Er soll hier im Original wiedergegeben werden, da eine gewisse Vorahnung und Verzweiflung der deutschen Juden hier zum tragen kommt:

Jüdische Nachrichtenblatt

„Was können, so fragen uns zahlreiche betagte Eltern, unsere schon früher nach Uebersee ausgewanderten Kinder für unsere Nachwanderung tun? An diese Fragen werden dann noch die verschiedensten Bemerkungen geknüpft, es wird hervorgehoben, wie häufig man sich bereits an die Kinder gewandt habe, ohne daß es gelungen wäre, einen abschließenden Erfolg zu erzielen. In den meisten Fällen werden von den ausgewanderten Kindern die überseeischen Einwanderungsbestimmungen und ihre Handhabung zur Entschuldigung für einen verzögerten oder gar negativen Bescheid angeführt, und manchmal ist der Einwand richtig, vielfach trifft er aber nicht den Nagel auf den Kopf. So viele Lobeshymnen über zahlreiche Söhne und Töchter angestimmt werden können, die restlos um die Nachwanderung ihrer bejahrten Eltern bemüht sind und so ergiebige Resultate bereits bisher durch viele dieser Anstrengungen erzielt werden konnten, zuweilen lassen es selbst die engsten Angehörigen an dem notwendigen Eifer fehlen, man vermißt bei ihnen Energie und Hingabe, schon die ersten Hindernisse genügen, um sich mit einer unzureichenden Erledigung abzufinden.

Die Einwanderungsbestimmungen der Ueberseeländer bilden gewiss schwer zu überwindende Hindernisse, aber wer wollte behaupten, daß sie überhaupt nicht überstiegen werden können. Besonders dann, wenn in einem Ueberseeland das Einwanderungsregelement sich geändert hat, pflegen die Absagebriefe von drüben nur so zu regnen, man weist auf die verschärfte Praxis hin und glaubt damit getan zu haben, was von einem erwartet werden konnte. Wenn fremde Menschen, an die sich die älteren Leute wenden, so antworten, wird man das bedauern, aber es nur selten zu ändern vermögen; schreiben jedoch die eigenen Eltern in dem gleichen Tone, dann wird man für eine solche Resignation keinerlei Verständnis aufbringen können. Daß die Beschaffung von Einwanderungsvisen schwerr ist, läßt sich keineswegs leugnen, aber dem unentwegten Eifer gelingt, was der lauen Pflichterfüllung mißraten muß. Wir sind noch nicht lange genug im Lande, so begründen manchmal Söhne und Töchter ihre verschleierten Ablehnungen, wir können deshalb keine Bürgschat ausstellen oder ein Recht zur Anforderung geltend machen.

Wir vermögen das Geld nicht aufzutreiben, so antworten andere nach Uebersee ausgewanderte Kinder, um eine Zwischenwanderung zu finanzieren, und sie denken, daß das für die alten Eltern eine überaus einleuchtende und leicht zu verstehende Begründung ist. Daß dem keineswegs so ist, zeigen die an uns gerichteten Anfragen der Eltern, die solche Briefe erhalten haben, wobei schon deren oberflächlichste Prüfung ergibt, daß die Kinder in Uebersee keineswegs alle in Betracht kommenden Möglichkeiten genügend geprüft haben. Weshalb unterlassen es diese Kinder, wenn die eigene Bürgschaft nicht ausreicht, befreundete Personen, die schon länge in dem bezüglichen Lande leben, zur Unterstützung heranzuziehen, sie könnten auch auf den Gedanken kommen, das für eine Zwischenwanderung benötigte Kapital darlehnsweise aufzunehmen, um es später in kleinen Beträgen zurückzuzahlen. Es mag schwer sein, alle diese Wege zu gehen, sie dürften jedoch allen den Kindern leicht fallen, die daran denken, welche Opfer die Eltern für sie gebracht haben und deren Erinnerung mit all den Jahren nicht verblaßt ist.

Es hat zahlreiche Eltern gegeben, die jahrzehntelang außerordentliche Aufwendungen gemacht haben, um ihren Kindern eine gute Erziehung angedeihen zu lassen; diese Eltern haben ihren eigenen Lebensunterhalt eingeschränkt, um den Kindern den Zugang zu einem Beruf zu eröffnen. Das war gewiß auch nicht leicht, es hat viele Entbehrungen gekostet, um das Ziel endlich erreichen zu können. Die Kinder haben all diese Anstrengungen als eine Selbstverständlichkeit hingenommen, sie haben wohl immer das Gefühl gehabt, die Eltern erfüllten eine Pflicht, die naturgegeben ist. Dieses Gefühl war durchaus richtig, aber auch von den Kindern, die in den vergangenen Jahren ausgewandert sind, darf man die Bestätigung einer solchen natürlichen Pflicht erwarten, und sie sollten sich deshalb nicht mit konventionellen Entschuldigungen begnügen, die nur allzu deutlich den mangelnden Eifer erkennen lassen. Liest man die Absagebriefe von Kindern aus Uebersee an ihre noch hier weilenden alten Eltern, dann muß man manchmal mit Bedauern konstatieren, wie locker die Bindungen geworden sind, durch die sich Söhne und Töchter mit ihren Eltern noch verknüpft fühlen.

Das geht freilich nicht nur manchen Eltern mit ihren Kindern so, auch andere ausgewanderte Personen fühlen sich ihrer moralischen Pflichten gegen die noch nicht ausgewanderten Verwandten und Freunde enthoben, wenn sie einige Monate in den Ländern der Einwanderung leben. Wie schnell wird da alles vergessen, was vorher bekräftigt worden ist, man staunt über die Leichtigkeit, mit der manche Ausgewanderte über förmliche Versprechungen hinweggehen, noch mehr verblüfft die Verständnislosigkeit gegenüber den einfachsten Wünschen um Unterstützung und Förderung der Nachwanderung. Diese Bemängelungen sollen keineswegs das beispielhafte Verhalten der großen Mehrheit der ausgewanderten Juden aus unserem Kreise in bezug auf die Nachwanderung ihrer Verwandten und Freunde in den Hintergrund rücken, wir wissen nur allzugut, daß die individuelle Wanderung ihren großen Umfang nicht angenommen hätte, wenn ihr das beseelte Verständnis der in den früheren Jahren Ausgewanderten gefehlt hätte.

Wir möchten aber, daß der Eifer sich auf alle diejenigen erstreckt, die ihn bekunden können, vor allem aber erwarten wir von den nächsten Angehörigen, daß sie sich auch weiter um die Auswanderung ihrer älteren Verwandten bemühen und daß sie es dabei nicht bei bloßen Gesten bewenden lassen, sondern daß sie Opfer bringen, Opfer an Bequemlichkeit und am eigenen Lebensstandard. Es gibt noch Länder, in die eine vorläufige Zwischenwanderung möglich ist, wenn auch die Einwanderung in diese Ueberseestaaten mehr oder minder erhebliche Kapitalien beansprucht. Darin aber sollte sich gerade die Opferfähigkeit der ausgewanderten Kinder zeigen, ihre Geschicklichkeit kann sich an der Aufbringung der Geldmittel erproben, die zur Finanzierung einer vorübergehenden Einwanderungsmöglichkeit benötigt werden. Ist auch die Erlangung von Einwanderungserlaubnissen und Visen schwieriger geworden, so sehen wir doch, daß die Auswanderung unvermindert weiter geht, es werden Transporte nach Uebersee abgefertigt, deren Organisation sowohl bezüglich des Land- und Seeweges als auch in jeder anderen Hinsicht ausgezeichnet ist; zahlreiche und gerade ältere Personen gelangen in den Besitz von Affidavita und Anforderungen und andere, die sie noch nicht haben, setzen ihre Anstrengungen unbeirrbar fort, um alsbald in den Besitz der erforderlichen Papiere zu kommen.

Tun alle Kinder in Uebersee ihre Pflicht in dem Sinne, wie wir es hier erörtert haben, dann kann der Umfang der Auswanderung besagter Eltern sich weiter vergrößern, und wir haben ja bereits vor kurzer Zeit dargelegt, wie vorteilhaft in mannigfacher Beziehung gerade die Auswanderung älterer Menschen für uns ist. Die sozialen Lasten werden dadurch vermindert, die spätere Auswanderungsfähigkeit jüngerer Menschen kann gesteigert und die altersmäßige Struktur der noch nicht ausgewanderten jüdischen Bevölkerung in günstigster Weise beeinflußt werden. Das sind wesentliche Vorteile, die sich erwarten lassen, die aber schon heute mit jedem Auswanderungstransport, der abgefertigt wird, eintreten, die jedoch noch ausgeweitet werden können, wenn sich vor allem die Kinder und sonstigen engsten Verwandten, die in früheren Jahren den Weg nach Uebersee angetreten haben, um die Steigerung und Vervollkommnung der Nachwanderung ihrer alten Eltern und Verwandten so hingebungsvoll bemühen, wie man es von ihnen verständigerweise erwarten darf. In den Bemühungen um die Schaffung von überseeischen Einwanderungsmöglichkeiten für ältere Menschen kann es keinen Stillstand geben, mit Eifer und Verständnis muß jeder einzelne Fall behandelt werden, denn die Fülle der Einzelfälle ergibt dann jenen Erfolg, der in den Sammeltransporten in die neutralen Häfen seinen greifbaren Ausdruck findet.“

Bevor das „Jüdische Nachrichtenblatt“ in Druck ging, wurde der Text vom Reichssicherheitshauptamt eingehend geprüft.Und der Propagandaminister und Kriegsverbrecher Gobbels schrieb am 24. September 1941 in sein Tagebuch, sprachlich dem römischen Feldherren und Schriftsteller Cato senior nacheifernd: „…und im übrigen bin ich der Meinung, daß wir so schnell wie möglich die Juden aus Berlin evakuieren müssen. Der Führer ist der Meinung, daß die Juden nach und nach aus ganz Deutschland herausgebracht werden müssen. Die ersten Städte, die nun judenfrei gemacht werden sollen, sind Berlin, Wien und Prag. Berlin kommt als erste an die Reihe, und ich habe die Hoffnung, daß es uns im Laufe dieses Jahres noch gelingt, einen wesentlichen Teil der Berliner Juden nach dem Osten abzutransportieren.“

Gobbels „Wünsche“ sollten sich erfüllen, denn sechs Millionen Juden haben keine Auswanderung geschafft; – sie wurden vernichtet.

Von Rolf von Ameln

Redaktion Israel-Nachrichten.org

 

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Von am 14/12/2014. Abgelegt unter Spiegel der Zeit. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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