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Der geschichtliche Sinn der „jüdischen Wanderung“

Die Notwendigkeit der jüdischen Wanderung begann mit der Zerstörung des ersten Tempels im Jahre 586 vor der geläufigen Zeitrechnung. In der darauf folgenden Periode gab es drei jüdische Zentren: Palästina, Babylon und Ägypten. Sowohl in Palästina wie auch in Ägypten standen sich die zwei Welten des Hellenismus und des Judaismus gegenüber. In Alexandrien schien der Hellenismus die Oberhand zu behalten, da die zahlenmäßig starke jüdische Gemeinde sich in verhältnismäßig kurzer Zeit fast vollständig assimiliert hatte. Die Synagogen wurden nach griechischen Königen benannt, der Gottesdienst immer mehr hellenisiert und die Gebote nicht wörtlich befolgt, sondern bloß allegorisch, im bildlichen Sinne, aufgefasst.

In Palästina dagegen, in der Urheimat des Judaismus, kam es zu einem bewaffneten Zusammenstoß. In den vorhergehenden Wirren aber wurden mehrere Palästinenser gezwungen, nach Ägypten auszuwandern. Ein Priesterstämmling, Onias IV., errichtete in Leontopolis den berühmten Tempel, der ein Zentrum des jüdischen Lebens wurde. Es war nicht mehr die Rede von allegorischer Deutung, denn sogar die Opfervorschriften, in Palästina immer weniger beachtet, wurden wörtlich aufgefasst und befolgt. Das Judentum in Ägypten erhielt neue Impulse und die restlose Assimilierung wurde verändert. Palästina war demnach in dieser Periode der eigentliche Mittelpunkt des jüdischen Lebens, dessen Ausstrahlung zur Erhaltung und Belebung eines zweiten jüdischen Zentrus beitrug.

Der zweite Tempel. Foto: Archiv

Nach der Zerstörung des zweiten Tempels ging das jüdische Leben in Palästina zurück. Der ununterbrochene politische Druck der Römer brachte es mit sich, dass sich im Heiligen Land höchstens nur die Dichtung und die grammatische Wissenschaft, keineswegs aber das religiöse Leben richtig entwickeln konnte. Schon nach einigen Jahrhunderten war Palästina in religiöser Beziehung zurückgeblieben und bildete einen Nährboden für verschiedene Sekten. Die vorübergehende Einigung mit dem Perserreiche stellte jedoch die Verbindung mit Babylon her und ermöglichte eine Auswanderung der Juden ins Heilige Land. In den einzelnen palästinensischen Städten entstanden nun babylonische Gemeinden, die nach eigenen Bräuchen lebten und ihre Umgebung im Sinne der babylonischen Überlieferung und deren Vorschriften beeinflussten.

Die babylonische Auswanderungswelle brachte das palästinensische Judentum wieder in den Rahmen der religiösen und nationalen Bildung zurück. Jahrhunderte vergingen, die wissenschaftliche Forschung der babylonischen Akademien drohte zu erstarren, da war es ein Ägypter, ein Nachkomme jener Juden, die seinerzeit durch die palästinensische Einwanderung aufgerüttelt worden waren, Saadia, der den alten Glanz der jüdischen Wissenschaft im Zweistromland wieder herstellte. Das von den Gestaden des Jodans stammende Licht strahlte vom Nil an den Euphrat. Mit Saadia begann ein neuer Abschnitt in der jüdischen Geschichte. Ebenso wie das Zusammentreffen mit dem Hellenismus in der griechischen Übersetzung zum Ausdruck kam, bildete die arabische Übersetzung der Heiligen Schrift durch Saadia ein Symbol der Auseinandersetzung mit der arabischen Abart griechischen Denkens, die durch Jahrhunderte das europäische Judentum in ihrem Bann hielt. In kultureller Bedeutung kann das europäische Judentum im Mittelalter in zwei Siedlungsgebiete geteilt werden:

1. Der „nördliche Block“, bestehend aus den jüdischen Gemeinden in Deutschland, Nordfrankreich, Böhmen und Polen, beschäftigte sich hauptsächlich mit der Pflege der Tradition und stand ganz im Banne des religiösen Lebens.

2. Der „südliche Block“, bestehend aus den jüdischen Gemeinden in Spanien, Italien, Griechenland und der Provence, widmete sich hauptsächlich der Philosophie, der Dichtung und den weltlichen Wissenschaften. Die einen suchen durch religiöse Übung das Gute, die anderen strebten in dichterischer Art das Schöne an.

In der Gestalt des Moses Ben Maimon erreichte der Einfluss des von arabischen Philosophen vermittelten alten griechischen Gedankengutes auf das Judentum seinen Höhepunkt. Die Nachfolger und Epigonen Maimons waren wieder bei der alten alexandrinischen Vorstellung von dem bloß bildlichem Sinn der jüdischen Lehre, die nicht wörtlich aufzufassen sei, angelangt. Die kulturelle Verschiedenheit der zwei jüdischen Siedlungsgebiete drohte in einen religiösen Zwiespalt auszuarten. Um diese Zeit setzte – durch die Wirren des großen Interegnums hervorgerufen – eine Einwanderung von Juden aus Deutschland nach Spanien ein. Bedeutende jüdische Gelehrte strenger Observanz nahmen die Rabbinerstellen in den größten spanischen Gemeinden ein, es entstand ein heftiger Kampf, der von beiden Seiten ziemlich rücksichtslos ausgefochten wurde.

Den Sieg behielt die Schule des R. Ascher Ben Jechiel, der im Jahre 1305 aus Deutschland eingewandert war. Ein ähnlicher Vorgang wiederholte sich zwei Jahrhunderte später in Italien, als im Zeitalter des Hellenismus die klassisch-griechische Bildung im jüdischen Leben eine Verwirrung hervorzurufen drohte. Hatten vorher die Universitäten von Toledo und Cordova den Mittelpunkt des geistigen Lebens gebildet, so waren es jetzt die Hochschulen von Rom und Padua. Hier wirkten aber die kurz zuvor aus Deutschland mit ihrem Anhange eingewanderten Rabbiner R. Jehuda Münz und R. Josef Colon. Zwischen den eingesessenen Juden und den aus Deutschland zugewanderten Anhängern der Tradition klaffte wieder ein Gegensatz, der mit dem Sieg des traditionellen jüdischen Denkens endete.

Das italienische Judentum blieb geistig erhalten. Zweimal zwang in dieser Form der nördliche Siedlungsblock dem zweiten Zentrum seine überlieferungsmäßige Gesinnung auf. Mit der Vertreibung der Juden aus Spanien, im Jahre 1492, begann eine Wanderungswelle, die in umgekehrter Richtung von Süden nach Norden ging und anti-traditionelles Gedankengut mit sich brachte. In Holland entstanden neue jüdische Gemeinden, die den Stempel der spanischen Ereignisse trugen. In einer anderen Umgebung wären die Ketzer-Tragödien eines Uriel Acosta und eines Baruch Spinoza unmöglich gewesen. Dagegen hielt es die vom religiösen Gerichtshof in Spanien erzogene Generation für richtig, über die abweichende Gesinnung einzelner Gemeindemitglieder zu urteilen.

Amsterdam wurde auch ein Mittelpunkt der messianischen Bewegung des Sabbathai Zewi, dessen überlieferungsfeindliche Gesinnung in der Aufhebung vieler Gebote zum Ausdruck kam. Diese Bewegung nahm ihren Ausgang in der Türkei, wo sich ebenfalls ein wichtiges Zentrum der aus Spanien eingewanderten Juden befand. Den Nachkommen jener Juden, die in Spanien Jahrhunderte lang als „Schein-Christen“ – Maranen – leben mussten, gelang es jetzt, die Gesinnung des europäischen Judentums entscheidend zu beeinflussen. Nur so war es möglich, dass der „Messias Sabbathai Zewi“ auch nach seinem Bekenntnis zum Islam noch immer Hunderttausende zu seinen Anhängern zählen konnte.

Der Übertritt zu einem anderen Glauben war nach maranischer Auffassung keine Sünde; in ihnen lebte noch die Vorstellung jener „Schein-Christen“, die unter Todesgefahr die jüdischen Bräuche im geheimen, wenn auch nur zum Teil, befolgten. Die Auflehnung gegen das Gesetz, die im 17. Jahrhundert von einer messianischen Bewegung getragen wurde, fand im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Fortsetzung in den Versuchen einer religiösen Reform. Wieder war es eine Bibelübersetzung – die Mendelsohnsche – in der die neue Bewegung ihren Ausdruck fand. Auch hier waren noch die Auswirkungen maranischer Denkungsart, die sich mit dem Verzicht auf einen Teil des jüdischen Rituals abgefunden hatte, festzustellen.

Die spanische Wanderungswelle des 15. Jahrhunderts wirkte auch noch 400 Jahre später nach. Wenn es aber wieder gelang, all diesen Strömungen Einhalt zu gebieten und die kernjüdische Überlieferung zu erhalten, so war dies ebenfalls auf eine Wanderbewegung, die im Jahre 1648 von Osten nach Westen ging, zurückzuführen. In diesem Jahr wurde das polnische Judentum von dem Kosakenaufstand unter Chmielnitzki heimgesucht. Zahlreiche Gemeinden wurden zerstört und viele Tausende Juden aus Polen, erzogen im alten jüdischen Geist, wanderten nach Deutschland, Holland, Frankreich und Italien aus. Ihr entstammen jene Rabbiner, die in Preußen, Elsaß-Lothringen und in anderen Ländern gegen die Reform ankämpften und sie schließlich unschädlich machten.

Die Anhänglichkeit an die jüdische Überlieferung, die seinerzeit in den jüdischen Gemeinden in Deutschland ihre Hochburg hatte und von hier aus Spanien und Italien entscheidend beeinflussen konnte, wich den kabbalistischen Lehren und fand eine Zuflucht in Polen. Von hier aus ging nun der Feldzug nach dem Westen, um die Gemeinden in Deutschland, Frankreich, Holland und Italien dem ursprünglichen Judentum zu erhalten. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts stand im Zeichen der beginnenden jüdischen „Übersee-Wanderung“, der gleichfalls eine große kulturelle Bedeutung beizumessen ist. Die ersten jüdischen Siedler in den Übersee-Ländern kamen zum Teil aus Spanien, hauptsächlich aber aus Großbritannien, und waren bestrebt, ihr Judentum möglichst zurückzudrängen und anglikanischen Formen anzupassen.

Das 19. Jahrhundert führte jedoch auch die ersten Juden aus Deutschland nach Nordamerika und mit ihnen das beginnende Interesse für das Judentum und seine Wissenschaft. Die dritte Welle hob mit dem Jahre 1881 an und trug viele Zehntausende russischer Juden nach Nordamerika,Südafrika, Australien und andere Überseegebiete. Mit ihnen fand die Auseinandersetzung über die geistige Richtung des Judentums in diesen Ländern ihren Abschluss, wieder im Sinne einer Rückkehr zur nationalen Überlieferung. Der Einfluss, den die Wanderung aus dem Osten auf einzelne jüdische Gemeinden in Westeuropa ausübte, wirkte sich ähnlich aus und schuf vor allem die Voraussetzung für die Entwicklung der zionistischen Idee.

Der Erste Weltkrieg und die auf ihn folgenden Jahre eines scheinbaren Friedens, hatten eine Unterbrechung zur Folge und riefen eine Umstellung hervor. Der Wiederaufbau Palästinas bildet einen neuen bedeutenden Faktor im jüdischen Leben.

In den Jahren 1933 bis 1945 war wieder eine große Wanderungswelle in Bewegung geraten; – man kann sie von zwei Seiten betrachten: die Auswanderung in andere, sichere Länder, oder die Vernichtung in den Lagern der Nazis. Ihre geschichtlichen Auswirkungen waren und sind nicht absehbar, aber ein Rückblick auf die jüdische Geschichte zeigt uns, daß das jüdische Volk die Träger eines ewigen Gedankens sind, der durch Jahrtausende wiederholt seine Wiederbelebung gefeiert hat.

Der tiefere Sinn der jüdischen Geschichte kann aber nicht wieder in einer endlosen Wanderung enden, sondern in Erez Israel seine Erfüllung finden.

Von Rolf von Ameln

 

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Von am 15/01/2017. Abgelegt unter Spiegel der Zeit. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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