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Deutschland im Zweiten Weltkrieg: Luftangriffe mit der Mistel

Vier „Mistel“ griffen im März 1945 die Oderbrücken an. Der Flieger Peter Wilhelm Stahl beschrieb in seinem Kriegstagebuch seine Einsätze beim Kampfgeschwader 200 und die Rolle dieser Einheit innerhalb der Nazi-Luftwaffe: „Die Mistel waren jetzt im Sturzflug, ihre Fahrtmesser zeigten um die 600 km/h an. Der leitende Oberfeldwebel drehte in den Endanflug von Süden und ging auf noch steileren Sturzflug bei noch höherer Geschwindigkeit. Er musste das Flugzeug auf die stärkeren Kräfte, die auf seine Höhenruderflächen einwirkten, austrimmen, behielt aber das Ziel, die Eisenbahnbrücke bei Steinau, im Visier. Dies war der wichtigste Teil überhaupt: Das Gespann im Zielanflug ganz stabil zu halten.

Deutsche Luftwaffe Mistel-Bomber. Foto: US-Archiv

Die geringste Bewegung am Steuerknüppel wirkte sich auf den empfindlichen Mechanismus der Kreisel des Autopiloten aus. Der ideale Ausklinkpunkt lag etwa einen Kilometer vom Ziel entfernt. Bei dieser Distanz konnte die Flugbombe ihr Ziel kaum verfehlen. Umgekehrt war die angreifende Maschine aber auch ein gutes Ziel für die leichten Flakgeschütze. Der Fahrtmesser stand jetzt bei 650 km/h, die Mistel befand sich im stabilen Hochgeschwindigkeits-Sturzflug, war richtig getrimmt und beschleunigte nicht. Der Autopilot funktionierte einwandfrei; die Maschine hätte, falls nötig, auch ohne Pilot fliegen können.

Aber wo war das gefürchtete Flakfeuer und wo die anderen Flugzeuge? Ich konnte jetzt jede Einzelheit der Brücke deutlich sehen. Es handelte sich um eine Eisenträgerkonstruktion auf festgemauerten Pfeilern. Um sie mit Sicherheit zu zerstören, hätte die Mistel einen dieser Pfeiler treffen müssen. Dafür waren höchste Präzision und dazu wohl auch noch ein gutes Quentchen Glück nötig. Ich machte mich also ans Werk. Im Visier konnte ich den am linken Ufer stehenden Teil der Brücke sehen. Eine letzte leichte Korrektur, und das erleuchtete Fadenkreuz und der Pfeiler lagen genau übereinander. Jetzt! ein leichter Druck auf den Abwurfknopf, gedämpfte, leichte Detonationen beim Lösen der Sprengbolzen, und dann war das Jagdflugzeug, das bisher das Gespann steuerte, wieder frei.

Nach einer steilen Kurve Richtung Westen konnte ich die Stelle sehen, auf die ich mit der Flugbombe gezielt hatte. Eine riesige Fontäne stieg zu Himmel. Ich konnte nicht erkennen, ob es sich um Wasser, Schlamm, Erde oder feste Bauelemente der Brücke selbst handelte. Sehr lange konnte ich das Schauspiel nicht beobachten, denn die Flakgeschütze der Sowjets feuerten nun ohne Unterlass. Zudem versperrte eine über der Brücke hängende Rauchwolke die Sicht. Plötzlich tauchte neben mir eine weitere Bf 109 auf. Die Befürchtung, es könne sich um einen Feind handeln, wich bald Erleichterung. Ich hatte einen Kameraden neben mir, und wir konnten uns gegenseitig schützen.

Wir machten uns keine Gedanken darüber, wo wir genau waren. Aus Gewohnheit drückten wir beide über dem Ziel auf unsere Stoppuhr und verließen uns jetzt darauf, unsere Position mit Hilfe einer Bahnlinie, einer Stadt – oder noch besser – einer Autobahn bestimmen zu können. Wir waren beide alte `Hasen´, und die Navigation bei Tag und gutem Wetter über unserem Heimatland bereitete sicher kein Problem. Und wir hatten beide erfolgreich unseren ersten richtigen Einsatz mit der Mistel geflogen.“

In der heißen Phase eines Krieges entstehen oft Entwürfe zu neuen Waffensystemen, die bizarr und utopisch wirken. Die Idee zu dem Gespann „Mistel“ entwickelte sich aus dem Projekt eines aus der „Mercury“ und der „Maia“ bestehenden Flugbootaggregats bei der Firma Short Brothers und Major Robert Mayos, dem technischen Leiter der englischen „Imperial Airways“. Die „Mercury“ war auf die „Maia“ montiert und löste sich nach dem Start von ihrem Trägerflugzeug. Die Versuche mündeten schließlich in einen erfolgreichen Flug der „Mercury“ von Dundee zum Delta des Orange River in Südafrika, nachdem zuvor die erste kommerzielle Ladung – eine halte Tonne Post – nonstop über den Atlantik transportiert worden war.

Die Luftwaffe der Nazis setzte diese „Huckepackidee“ jedoch ein wenig anders um. Man verwendete das Unterteil nicht als Träger für das obere Flugzeug während der Treibstoff fressenden Start- und Steigphase auf Reisehöhe. Vielmehr handelte es sich beim unteren Gerät um eine unbemannte Flugbombe, die lediglich Triebwerke aufwies und mit Sprengstoff bestückt war. Der Pilot flog das Gespann von der oberen Maschine aus, lenkte es bis zur stabilen Fluglage beim Zielanflug, löste sich von der Bombe und entfernte sich dann möglichst schnell vom feindlichen Flakfeuer. So sah es zumindest in der Theorie aus. Während des gesamten zweiten Weltkrieges herrschte bei Görings Luftwaffe ein empfindlicher Mangel an Langstreckenbombern.

Die Alliierten dagegen besaßen Zehntausende davon. Ein vorrangiges Ziel des deutschen Oberkommandos war die Bombardierung der britischen Flotte in ihrem Stützpunkt Scapa Flow auf den Orkneyinseln. Ein Ziel, das außerhalb der Reichweite der „Großdeutschen Luftwaffe“ lag. Das „Mistel-Gespann“ versprach eine Lösung des Problems. Der Treibstoff des unteren Flugzeuges reichte für den Hinflug. Nach dem Lösen der Flugbombe konnte das obere, bemannte Flugzeug dann mit eigenem Treibstoff zurückkehren – in der Praxis eine Verdoppelung der Reichweite. Die ersten Erprobungsflüge fanden im Jahre 1942 statt. Dabe wurde unter anderem ein leichtes Sportflugzeug vom Typ Klemm Kl 35 A auf den Rücken eines DFS-230A-Gleiters montiert.

Eine Ju-52-Transportmaschine zog das Gespann in die Luft. Im Verlauf der Versuchsreihe ersetzte man die Kl 35 A durch leistungsstärkere Flugzeuge, und zwar durch einen Focke-Wulf-Stosser Kampftrainer, später dann durch eine Messerschmitt Bf 109. Alle Versuchsergebnisse deuteten auf einen Erfolg hin. Die endgültige Kombination konnte sogar mit der Leistung des einzelnen Daimler-Benz-Triebwerks der Bf 109 starten. Der wahre Durchbruch gelang jedoch, als man veraltete Ju-88-Bomber als Unterteil und Bf 109Fs oder Fw 190As als Steuerflugzeuge einsetzte. Als Bombe wirkte die entsprechend veränderte Ju-88 äußerst beeindruckend – 3,8 Tonnen Sprengstoff als Hohlladung und eine hochentwickelte Zündvorrichtung.

Bei Versuchen hatte diese Sprengladung 7,9 Meter Stahl oder 20,1 Meter Stahlbeton durchschlagen. Bei genauer Platzierung verfügte die Luftwaffe über eine leistungsstarke neue Waffe. Ein technisches Problem stellte die Verbindung zwischen den beiden Flugzeugen dar. Die Steuerflächen des Unterteils mussten sich von der oberen Maschine betätigen lassen. Der Verbindungs- und Lösemechanismus war einfach: elektronisch gezündete Sprengkugellager in den Verstrebungen, die das Steuerflugzeug so weit auf Abstand hielten, dass ein Propeller die Bombe gerade nicht berührte. Die hintere Verstrebung knickte kurz vor der Freisetzung in der Mitte ab und zog das Heck des Oberteils nach unten.

Das Flugzeug ging daraufhin in Steigfluglage. Den Bruchteil einer Sekunde später explodierten die Kugellager, und die obere Maschine löste sich. Aber wie üblich steckte auch bei diesem Nazi-Projekt der Teufel im Detail. Das ohnehin nicht geräumige Cockpit einer Bf 109 wurde durch die Ausrüstung mit zwei zusätzlichen Triebwerksreglern und – instrumenten noch enger. Die Datenübertragung zwischen den beiden Flugzeugen erfolgte über zwei dicke Elektrokabel, die einfach mit Klebeband befestigt und mittels zwei Steckern verbunden wurden. Die Regler der unteren Maschine wurden über elektrohydraulische Stellmotoren bedient. Nur die Gashebel waren mechanische Stäbe. Das Unterteil hatte keine Bremsen.

Ihr einbau wäre für die nur einmal verwendbare Flugbombe unnötig gewesen. Bremsen wurden ohnehin nur für Rollen zum Start benötigt, und dabei konnte man sich auch mit einer Zugmaschine behelfen. Man legte jedoch nie genau fest, was ein Pilot zu tun hätte, sollte er einen Start abbrechen müssen. Ein Abbruch wegen eines geplatzten Reifens war immer durchaus vorstellbar. In seiner für den Einsatz vorgesehenen Form wog das Gespann über 20 Tonnen, lief aber auf Reifen, Felgen und einem Fahrwerk, die für ein weitaus geringeres Gewicht vorgesehen waren. Um die Gefahr eines Reifenschadens zu minimieren, reinigte das Bodenpersonal vor jedem Start den Beton-Abstellplatz sowie die Startbahn und entfernte dabei sogar die kleinsten Steinchen, welche die Reifen hätten beschädigen können.

Die ersten „Mistel“ wurden im Mai 1944 für einen Angriff auf Scapa Flow an das Kampfgeschwader 101 (KG 101) ausgeliefert. Die Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 durchkreuzte jedoch zunächst die Angriffspläne. Die „Mistel“ kamen nicht bis fast zum nördlichen Polarkreis, sondern nur bis Baie de la Seine. In der Nacht vom 24. auf den 25. Juni starteten die fünf verfügbaren Gespanne zum Angriff auf die im Hafen von Mulberry liegenden Schiffe. Ein Pilot war gezwungen, seine Bombe auf dem Hinflug abzuwerfen, die anderen vier führten den Angriff relativ erfolgreich durch. Alle fünf Piloten kehrten zur Basis zurück.

Ein weiterer Plan zum Angriff auf die Royal Navy sah die Stationierung einer „Mistel-Bereitschaftsstaffel“ in Dänemark vor. Die Engländer zogen jedoch ihre Flotte ab, nachdem sie das deutsche Schlachtschiff „Tirpitz“ versenkt hatten, denn damit waren auch die potentiellen Ziele der „Mistel“ verschwunden. Inzwischen waren alle „Mistel“ in einer nach ihrem Kommandanten Helbig benannten Sondereinheit, dem KG 200 unterstellt. Sie sollten erst 1945 wieder zum Einsatz kommen, als sich die Lage Nazi-Deutschlands erheblich verschlechtert hatte. Die Alliierten standen kurz vor der Überquerung des Rheins im Westen bereits auf deutschem Boden. An der Ostflanke war die rote Armee in bedrohliche Nähe gerückt.

1943 hatten die Strategen der Luftwaffe darauf hingewiesen, dass die Zerstörung von Zielen wie Kraftwerken eigentlich viel effektiver sei, als die Bombardierung von Städten. Jetzt zog man die Pläne wieder aus der Schublade und aktualisierte sie unter Berücksichtigung der „neuen“ Waffe. Die als Ziel bestimmten Kraftwerke lagen in der Gegend von Moskau und Gorki, 650 Kilometer weit im Osten. Wegen des sowjetischen Vormarschs standen als einzige geeignete Startplätze Flugfelder bei Berlin und an der Ostseeküste zur Verfügung. Daraus ergab sich eine Flugdauer von zehn Stunden bis zum Ziel. Für den Rückflug im schnellen einsitzigen Jäger waren weitere fünf Stunden bis zur Landung in Latvia, der östlichsten Stellung der Deutschen, einzuplanen.

Also ein äußerst waghalsiges Unternehmen. Vorbereitung und Ausbildung für den Einsatz gingen trotz einiger Rückschläge wie zum Beispiel der Zerstörung von 18 „Mistel“ am Boden durch einen Tagangriff der Amerikaner in Rechlin-Larz weiter. Dann wurde die „Operation Eisenhammer“ plötzlich und ohne jde Erklärung abgesagt. Man definierte die Rolle der „Mistel“ neu. Erst waren die Gespanne für die Zerstörung von Schiffen, dann als strategische Bomber vorgesehen. Nun sollten sie zu taktischen Bombern werden und zur Unterstützung von Bodenangriffen gegen die Soldaten der Roten Armee dienen, die, bereits wenige als 100 Kilometer von der Reichshauptstadt Berlin entfernt, an der Oder-Neiße-Linie standen.

Der erste Angriff mit der „Mistel“ erfolgte am 8. März auf die Oderbrücke bei Göritz. Wieder musste ein Pilot des Gespanns wegen einer Störung die Bombe zu früh freisetzen. Die anderen drei Gespanne flogen weiter und erzielten zwei direkte Treffer auf Brücken. Ein anderes Ziel verfehlten sie knapp, trafen aber mehrere Flakstellungen. Am 31. März kam es zu dem bereits erwähnten Angriff auf die Eisenbahnbrücke in Steinau. Insgesamt kostet dieser Angriff sechs Ju-88-Flugbomben und zwei Bf-109-Steuerflugzeuge, und – was in dieser Phase des Krieges vielleicht noch wichtiger war – 31.215 Liter unersetzlichen Treibstoff. Durch die Zerstörung eines Stützpfeilers der Brücke wurde der Vormarsch der Sowjets an dieser Stelle zwei Tage lang aufgehalten. Danach war die Bahn eingleisig wieder in Betrieb und die Rote Armee rückte weiter vor! Für wenige Wochen schien es, als ob die „Mistel“-Gespanne Wunder bewirken und den russischen Vormarsch aufhalten könnten. Diese Vorstellung sollte sich jedoch schnell als Illusion erweisen. Hitlers Wehrmacht hatte den Krieg schon lange verloren; – ob mit oder ohne „Mistel“.

Von Rolf von Ameln

 

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Von am 02/05/2017. Abgelegt unter Spiegel der Zeit. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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