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Solange ich mich erinnern kann, bin ich mehr im Bewusstsein meiner Pflichten aufgewachsen, als im Wohlgefühl meiner Rechte

Ori Friedland, geboren am 19. Mai 1988 in Haifa (Israel), begrüßt mit diesen Worten im Campus der Ben Gurion Universität in Be`er Sheva die Freunde der Universität. Er studiert im zweiten Semester Jüdische Philosophie und Geschichte. Seit einem Unfall vor acht Jahren ist Ori Paraleptiker. 

Erlebt man Ori auf dieser Bühne, spürt man, das ist es, was er sich für sein Leben wünscht: eine Aufgabe fern vom Schreibtisch und direkt bei den Menschen.

Ori bei seiner Rede anlässlich des Treffens der Freunde der Universität. Foto: Esther Scheiner

Ori bei seiner Rede anlässlich des Treffens der Freunde der Universität. Foto: Esther Scheiner

Ab dem sechsten Halswirbel abwärts ist er gelähmt. Seine Bewegungen sind sparsam. Manchmal verkrampfen sich die meist bewegungslosen Hände. Sie drücken aber, zusammen mit den Armen, Gefühle aus. Ori beherrscht alle Spielarten vom formalen Händedruck über den freundschaftlichen „high five“, bis zur liebevollen Umarmung. Alle angepasst an seine Möglichkeiten. Alle ein bisschen anders.

Spricht er vor einem größeren Publikum, locker und selbstbewusst, kann man sich kaum vorstellen, dass Ori zu jenen Kindern gehörte, die erst sehr spät zu sprechen begannen. 

Paula, seine Mutter erzählt von ihren Bemühungen, mit den Kindern alles richtig zu machen: „Jonathan und ich haben mit ihnen nur Englisch gesprochen. Wir sind davon ausgegangen, dass sie Ivrith im Kindergarten von allein lernen. Aber Ori war anders. Wollte er etwas tun, hielt ihn nichts auf, wollte er etwas nicht, konnte er durch nichts dazu bewegt werden. Aber wir haben uns doch Sorgen gemacht, als er mit drei Jahren immer noch stumm war. Plötzlich kam uns die Idee, die Sprache zu wechseln. Und was geschah? Zwei Tage später sprach Ori fast fließend. Hörte er uns Englisch sprechen, hielt er sich die Ohren zu und schrie.“

Als „Sabres“ – Kaktusfeigen – bezeichnen sich die in Israel Geborenen, außen stachelig, innen süß. Ein bisschen trifft das auch auf Ori zu. Man muss ihn im Kreis seiner Freunde, Studienkollegen und seiner Familie treffen, um ihn besser kennenzulernen.

Bei unseren ersten Treffen empfand ich Unsicherheit, wie ich mit seiner Behinderung umgehen sollte. Musste ich besonders rücksichtsvoll sein? Durfte ich ungefragt helfen?

Ich erlebte Ori, wie er schimpfte und wütend die Arme hochriss, als ihm der Deckel der Wasserflasche aus der Hand gefallen war  oder das Handy im Rucksack lag, der hinten am Rollstuhl hing, und der Lift nicht einwandfrei funktionierte – jene kurzen Momente, in denen er die Wut über seine Hilflosigkeit offen zulässt, das Gesicht sich verzerrt und sein Körper von Krämpfen geplagt wird.

Aber ich durfte auch beobachten, ganz anders, wie der Familienhund Sina es superlustig fand, mit der extralangen Leine seine Kreise rund um den Rollstuhl zu ziehen, um dann hechelnd da zu stehen und das Desaster zu betrachten. Panik? Unsicherheit? Ach was, einfach die Leine lösen! Der Rest ergab sich von selbst. Die Leine rollte sich automatisch auf und der Hund trabte zufrieden neben dem Rollstuhl her nach Hause. 

Beides, seine spürbare Wut und sein herzliches Lachen machen es mir einfach, hinzuschauen und das zu tun, was ich sonst auch tue: helfen.

Vor Kurzem hat Ori seine Tauchprüfung bestanden. In Eilat am Roten Meer machte Ori seine ersten Tauchgänge und beschreibt seine Erfahrung: „Schwimmen habe ich schon während meiner Reha-Zeit wiedererlernt. Aber das hier ist etwas ganz Neues. Die Bewegung unter Wasser gibt mir eine neue Freiheit. Ich kann mich nicht so schnell wie andere bewegen, bin aber genau so sicher. Nur, dass man einen Tauchanzug tragen muss, ist ärgerlich. Ich brauche ewig lang, um ihn anzuziehen, er ist so schrecklich eng!“

Kurz vor der Tauchprüfung erzählte mir Oris Vater, dass Paula ihren Sohn gebeten hatte, ihr erst nach der Prüfung davon zu erzählen. Ich frage Ori, ob es damit eine besondere Bewandtnis hat. Ori lacht und bestätigt: „Ja, das war bei uns schon immer so. Unsere Eltern haben, solange ich mich erinnern kann, immer volles Vertrauen in uns gehabt. Sie waren überzeugt, dass wir selber unsere Grenzen kennen. Meine Mutter hat irgendwann damit begonnen zu sagen: „Mach, was für dich richtig ist, aber sag es mir erst, wenn es vorbei ist.“ 

Aufgewachsen ist Ori in einem, wie er es nennt, „typischen Masorti-Haus“. Masorti steht für traditionelles, konservatives, nicht ultraorthodoxes Judentum. 

„Meine Familie ist strikt jüdisch und zionistisch. Dieser Hintergrund hat meine Identität nachhaltig geprägt. In der Schule habe ich einige Probleme damit gehabt. Meine Klassenkameraden gingen am Freitagabend zu Partys, ich war daheim. Mir war es als Kind, aber auch später als Teenager wichtig, den Schabbat mit der Familie zu verbringen: gemeinsam zu essen, uns zu unterhalten, Zeit füreinander zu haben. An diesen Abenden habe ich viel von den Eltern gelernt. Sie haben uns Geschwistern selten direkte Vorschriften gemacht, sondern haben uns vermittelt, wie wichtig es ist, Verantwortung zu übernehmen, jeder auf seine Art, so wie er es kann. 

Mir wurde früh bewusst, dass ich in der Armee dienen würde. Auch in der Gemeinde hat sich immer etwas gefunden, um ein wenig zurückzugeben, von dem Vielen, das ich erhalten habe. Die Rechte, die ich als Bürger jederzeit in Anspruch nehmen kann, waren für mich immer wie eine bequeme Couch, auf der ich mich unverdienterweise ausruhen konnte. Ich sehe das Leben aber als einen Prozess von Geben und Nehmen.“

Mit zehn Jahren beginnt Ori Saxofon zu spielen; er besucht die REUT Junior Highschool for Arts in Haifa und ist bis zu seinem Unfall aktives Mitglied des Jugendorchesters. Heute kann er nicht mehr Saxofon spielen. Will er selber musizieren, was er leidenschaftlich gerne tut, spielt er auf seiner Mundharmonika, die er ständig mit sich herumträgt und die er gut beherrscht! Überhaupt die Musik! Nimmt am Freitagabend oder an einem Feiertag die gesamte Familie in der Synagoge an einem Gottesdienst teil, so kann man einen eigenständigen gemischten Chor hören. Nicht immer fehlerfrei, aber voller Begeisterung singend. 

Ich war im vergangenen Jahr an Simchat Thora in seiner Gemeinde dabei. Die ganze Familie sowie einige seiner Freunde waren dort. An diesem Feiertag wird das Lesen der Thorarolle beendet und neu begonnen. Alle vorhandenen Rollen werden in einer fröhlichen Prozession tanzend durch die Synagoge getragen. Ori wurde, eine Thorarolle im Arm, von seinem ältesten Neffen (10) gefahren, während der jüngere Neffe (2) Fähnchen schwenkend und vor Freude quietschend auf seinen Knien saß.

Oris große Liebe ist die Natur. Er entdeckte sie gemeinsam mit seinen Eltern schon sehr früh. „Ich war noch ganz klein, der Jüngste in der Familie, da durfte ich schon auf den Schultern meines Vaters die wöchentlichen Wanderungen mit der ganzen Familie genießen. Später wurden die Ausflüge zunächst kürzer, weil ich an der Hand meiner Eltern noch nicht so lange laufen konnte. Mein Vater hat sich immer etwas Spannendes für mich ausgedacht, er hat mir gezeigt, wie man Karten liest und wie ein Kompass funktioniert. Er hat mir beigebracht, wie ich mich in der Natur orientieren kann.“

Seinen Traum, bei einer Eliteeinheit der Fallschirmspringer den Dienst abzuleisten, hat er schon früh aufgeben müssen. Die starke Kurzsichtigkeit, die er von seinem Vater geerbt hat, verhinderte die Aufnahme. 

Im Jahr 2006 fand der zweite Libanon-Feldzug statt. Haifa wurde wochenlang bombardiert, die Menschen saßen in den Bunkern und waren zum Nichtstun und Abwarten gezwungen.

Zu dieser Zeit hat Ori gerade sein Abitur bestanden. Er beschließt, seinen Wehrdienst um ein Jahr zurückzustellen, um eine Ausbildung als geprüfter Wander- und Kletterführer zu machen.

Der drei Monate dauernde Kurs ist sehr intensiv, neben Geschichte, Archäologie und Kultur stehen auch Navigation, Gruppenmanagement und Erste Hilfe auf dem Programm.

Den letzten Ausbildungsteil absolviert er mit seiner Gruppe in der Negev Wüste. Sie müssen zeigen, dass sie das theoretisch Erlernte auch in die Praxis umsetzen können. Der Weg führt in sehr unwegsames Gelände, wo eine „geheime Höhle“ versteckt sein soll. Ori macht sich als Erster an den Abstieg.

Er rutscht aus und stürzt ab. Er glaubt, dass beide Arme und Beine gebrochen sind, weil er sie nicht bewegen kann. Schmerzen hat er keine. Bis der Rettungshelikopter eintrifft, vergeht einige Zeit. 

„Ich habe mich die ganze Zeit mit den anderen unterhalten. Habe zusammen mit ihnen gesungen und alles versucht, dass bei ihnen keine Panik aufkam. Angst hatte ich keine Sekunde, ich war überzeugt, dass nur meine Arme und Beine gebrochen seien.“

Drei lange Stunden dauert es, bis er endlich im Rettungswagen erstversorgt wird. Sein Vater ist kurz vorher nach Amerika geflogen. So wird zunächst nur seine Mutter informiert. 

Das Krankenhaus und die Reha Klinik werden während der nächsten neun Monate der Lebensmittelpunkt der Familie, immer ist jemand bei ihm, er ist nie allein. Paula erzählt, wie großartig sich seine Freunde verhalten haben. „Vor allem am Schabbat Abend waren immer viele Freunde da. Das war so wichtig für Ori, zu wissen, er ist nach wie vor einer von ihnen. Und immer brachten sie etwas zu essen mit. Manchmal gab es fünf verschiedenen Kartoffelgerichte, manchmal vier Gerichte nur mit Huhn. Egal. Es tat Ori gut und damit war es auch sehr gut für uns.“

„Ich weiß nicht, ob meine Eltern damals schon wussten, wie es wirklich um mich stand. Mir hat niemand etwas gesagt. Im Nachhinein betrachtet war das gut. Ich habe es langsam selber begreifen müssen. Dass es keine Kletterausflüge für mich mehr geben würde, kein Windsurfen am Meer, kein Fußballspiel. Dass ich mich an ein Leben im Rollstuhl würde gewöhnen müssen,“ resümiert Ori die Zeit nach dem Unfall.

Einige Zeit nach dem Unfall wird er an der Halswirbelsäule operiert. Die diagnostizierte Querschnittlähmung ist unvollständig. Ori kann nach monatelanger Reha und Dank seines starken Willens die Arme benutzen, nicht aber seine Hände. Sein Körpergefühl ist vollständig erhalten. 

„Als einen der ersten Bewegungsabläufe musste ich lernen, mich zu rollen. Das ist wichtig, damit ich mich nachts im Bett bewegen kann. Ich musste lernen, den Rollstuhl selbstständig zu verlassen und mich anzuziehen. Tagsüber bin ich weitgehend autonom.“

Nach Oris Rückkehr aus der Reha stellt sich schnell heraus, dass das Haus der Familie nicht für einen Umbau geeignet ist. Die Familie findet ein Haus in Zichron Yaacov, das ganz an seine speziellen Bedürfnisse angepasst wird. Er bewohnt zusammen mit seinem philippinischen Betreuer Mario eine kleine Einliegerwohnung was ihm größtmögliche Freiheit gibt.

Ori bewirbt sich ein zweites Mal beim Militär. Er wird geprüft und akzeptiert. Als Vorbereitung besucht er einen vormilitärischen Kurs, der sieben Monate dauert. 

Dort macht er auch seinen Führerschein und bekommt ein ganz speziell für ihn ausgestattetes Fahrzeug.

„Das Auto ist wirklich für mich produziert worden. Alles muss stimmen, die Breite für die Verankerung des Rollstuhls, die Entfernung zum Lenkrad, die Position der verschiedenen Schalter. Sogar für das Handy hat man Maß genommen, damit ich es problemlos nutzen kann.“

Meine Frage, ob jemand anderer im Notfall den Wagen fahren kann, beantwortet er spitzbübisch grinsend: „Klar, wenn ich zu viel getrunken habe und nicht fahren kann, dann rutscht du mit dem kompletten Beifahrersitz nach links und kannst den Wagen ganz normal fahren. Ich sitze dir dann halt im Nacken.“

Ori wird einer Sondereinheit der Marine zugeteilt, wo er zunächst während 1½ Jahren seinen Dienst als Freiwilliger absolviert. Nach dem Ende der Grundausbildung, die er gemeinsam mit anderen Soldaten mit speziellen Bedürfnissen durchläuft, bewirbt er sich für den Offizierskurs, den er im Jahr 2010 als Leutnant abschließt. Die folgenden drei Jahre dient er als Sicherheitsoffizier in Tel Aviv. Die täglichen Fahrten stellen für ihn eine Herausforderung, aber kein Hindernis dar. Seine Mutter erzählt dazu: „Einmal rief früh am Morgen ein Bahnbeamter bei uns an. Er bat uns, Ori auszurichten, dass die Bahnstrecke für einige Stunden gesperrt sei. Er möge doch bitte selber mit dem Auto ins Büro fahren. Das ist einerseits ein sehr guter Service der Bahn gewesen, aber auch ein Zeichen, dass Oris Leben langsam aber sicher wieder beginnt, sich zu normalisieren. Das ist ein riesiger Fortschritt für ihn. Und für uns.“

Über seine Zeit bei der Marine spricht Ori nicht viel. „Ich weiß, dass du jetzt neugierig bist, aber ich kann dir nicht viel erzählen. Ich war Sicherheitsoffizier. Ich war bei einigen Einsätzen dabei, bei geheimen und weniger geheimen. Alles in allem war die Zeit sehr wichtig für mich. Aber jetzt ist sie vorbei und abgehakt.“ 

Ich möchte wissen, warum er es sich angetan hat, freiwillig fünf Jahre beim Militär zu dienen. Ori wird sehr nachdenklich bevor er antwortet: „Seit Beginn des Jahres sind wieder einige Hundert Raketen aus Gaza auf uns abgeschossen worden, seit gestern gibt es eine neue Luftoffensive von uns. Wir kommen einfach seit der Staatsgründung nicht zur Ruhe.“ Seine Stimme wird eindringlich, fast beschwörend. „Ich bin überzeugt, dass wir nur gemeinsam stark sind. Dass jeder eine Verantwortung gegenüber dem Staat hat. Wir haben nur diesen einen. Mir war auch nach dem Unfall klar, dass ich meinen Teil dazu beitragen wollte. Und ich bin dankbar, dass ich es auch konnte.“ 

Seit dem vergangenem Oktober studiert Ori in Beer Sheva. Er hat eine für sich passende Wohnung gekauft und lebt dort mit seinem Betreuer und einem anderen Studenten in einer WG. Seit unserem letzten persönlichen Treffen vor einigen Monaten hat sich Ori stark verändert.

Aus seinen Augen blitzt die pure Lebenslust. Sein Lachen ist noch herzlicher geworden, und er scheint einen Energieschub hinter sich zu haben. Er hat jetzt mehr Zeit für seine Physiotherapie und kann sich deutlich besser bewegen.

Ori hat seinen Platz im Leben gefunden, hat seine Ziele neu definiert: er möchte nach dem Studium entweder im Bereich Erziehung arbeiten oder in die Politik gehen. „Das sind die Bereiche, in denen man am meisten Einfluss auf die Menschen nehmen kann. In den Schulen bilden wir unsere Kinder aus und in der Politik schaffen unsere Politiker die Basis für deren Zukunft. In beiden Bereichen kann ich mich einbringen und etwas zurückgeben, von dem, was ich erhalten habe.“

Gestern Abend habe ich wieder einmal auf seine Facebook Seite geschaut und muss ihn einfach darauf ansprechen. Auf jedem Bild ist Ori zu sehen, wie er all das macht, was Millionen anderer Studenten in seinem Alter weltweit in ihrer Freizeit machen: das Leben gemeinsam mit Freunden genießen, feiern, flirten, tanzen, zusammen kochen und diskutieren.

Noch einmal leuchtet das strahlende Lächeln auf: „Ich habe eine neue Seite in meinem Leben aufgeschlagen. Ich genieße jeden Tag. Ich lerne sehr viel, aber ich genieße auch meine Freizeit. Und ich habe auch private Pläne. Nicht heute, nicht morgen. Aber ich möchte eine eigene Familie haben. Und möglichst viele Kinder!“

Es fällt mir kein bisschen schwer, mir Ori als jungen Vater vorzustellen, auf jedem Knie ein Kind….

Von Esther Scheiner

Redaktion Israel-Nachrichten.org

 

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Von am 29/08/2014. Abgelegt unter Featured. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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