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Alle Jahre wieder – Betroffenheitsrituale mit abnehmender Glaubwürdigkeit

In diesem Monat jährte sich zum 82. Mal das Gewalt-Ereignis, was man als den Beginn der systematischen Vernichtung der deutschen und europäischen Juden kennzeichnet – die „Reichspogromnacht“, zynisch und euphemistisch auch als (Reichs-)“Kristallnacht“ bezeichnet, vom 09./10. November 1938. „Dabei wurden vom 7. bis 13. November mehrere hundert Juden ermordet, mindestens 300 nahmen sich das Leben. Mehr als 1400  Synagogen,  Betstuben  und sonstige Versammlungsräume sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und  jüdische Friedhöfe  wurden zerstört. Ab dem 10. November wurden ungefähr 30.000 Juden in  Konzentrationslagern  inhaftiert, wo ebenfalls Hunderte ermordet wurden oder an den Haftfolgen starben. „[Wikipedia]

Brennende Synagoge in der Boemestraße, Frankfurt Deutschland. Reichspogrom Kristallnacht, 10/11/1938. Foto: Yad Vashem

Es ist einerseits gute Tradition, dass Spitzenpolitiker, Staatsoberhäupter und politische Organisationen an derartig herausragende historische Zäsuren erinnern, die Glaubwürdigkeit der Statements nimmt ob der immer häufiger feststellbaren antisemitischen Ereignisse allerdings eher ab denn zu, weil die Bürger*innen keine Handlungserfolge im Kampf gegen den Antisemitismus ausmachen können, ganz im Gegenteil.

„Bundespräsident Frank-Walter … hat zum Jahrestag der #Pogromnacht am #9. November zu konsequentem Handeln gegen #Antisemitismus in Deutschland aufgerufen. Es beschäme ihn, dass sich Juden mit einer Kippa auf den Straßen hierzulande nicht sicher fühlten, und dass jüdische Gebetshäuser geschützt werden müssten,…“[Jüdische Allgemeine]

Der deutsche Bundespräsident zeigt sich betroffen und ruft zu konsequentem Handeln gegen Antisemitismus auf, wieder einmal. Es sollte ihn aber tatsächlich bestürzen, dass er dem Iran näher ist als Israel wenn er den Ajatollahs seine staatsmännischen Grüße zum 40. Jahrestag der Islamischen Revolution übermittelt und den roten Teppich für die deutsche Wirtschaft ausrollt, dass Deutschland in der UNO genau das Gegenteil davon tut, was deutsche Spitzenpolitiker *innen in Israel sagen. Es sollte ihn bestürzen, dass in Deutschland der politische Islam eine feste Rolle inne hat und islamistische Organisationen unbehelligt ihr Unwesen treiben dürfen. Die deutsche EU-Rats Präsidentschaft in diesem Jahr in Brüssel hatte die legitimen Sicherheitsinteressen Israels nicht in den Fokus europäischer politischer Interessen gestellt und die Reaktionen in Berlin und Brüssel auf die von den USA initiierte, historische Annäherung der VAR, Bahrain und anderer gegenüber dem bisherigen Erzfeind Israel fand nicht ansatzweise die ihr gebührende politische Beachtung.

Einige meinen, dass die Lieferung deutscher U-Boote an Israel und die Auslieferung der ersten von 4 Korvette an die israelische Marine in diesem Jahr genug der Mühe sei, sie vergessen aber, dass Israel bei weitem nicht zwingend in Deutschland kaufen muss, Angebote anderer Anbieter von militärischer Spitzentechnologie gibt es genug. Es ist eher ein Privileg, dass deutsche Rüstungsunternehmen gerade auch im Kontext der Shoah heute nach Israel exportieren dürfen und umgekehrt Deutschland israelische Rüstungsgüter wie die Drohne „Heron TP“ einkaufen kann.

Wo bleibt die Bestürzung der politischen Eliten, wenn in Berlin und Leipzig wieder unter der Reichskriegsflagge und Flaggen mit eindeutig nationalistischem, neofaschistischem Bezug demonstriert werden darf und welche gesetzlichen Schlussfolgerungen werden daraus abgeleitet? Wieso darf sich ein Bundes-Innenminister Seehofer monatelang weigern, einer Studie zum Thema Rassismus in der Polizei (Racial Profiling) zuzustimmen? Erst nach zunehmendem Druck aus der Öffentlichkeit dem sich nun auch nicht mehr die nach political correctness handelnden und selbstzensierender Presse entziehen konnte, stimmte er kaum wahrnehmbar zu, eine Studie in Auftrag zu geben, hat sie aber bereits jetzt so entschärft, dass jetzt 3 unterschiedliche Studien erarbeitet werden sollen, deren Ergebnisse dann aber eher vom Problem weg-weisen statt in die Tiefe der Ursachen einzusteigen um das Problem an der Wurzel anzupacken. So jedenfalls wird der propagierte und immer wieder eingeforderte Kampf gegen Antisemitismus und nationalistische Tendenzen eher ein politisches Feigenblatt statt wissenschaftlich begründetes Arbeitsmittel zur Aufarbeitung von Versäumnissen und Führungsschwächen bei der Bewältigung der Aufgaben.

Bei dem Sturm auf die Synagoge von Halle, bei den bestialischen Morden in Paris und Avignon im Namen Allahs, bei den islamistischen Terrorakten in Frankreich, Österreich und Deutschland zeigt man sich betroffen und bestürzt, weigert sich aber den Kampf gegen jede Form des Antisemitismus konsequent zu führen. Dass Deutschland erst jetzt, nach den jüngsten Terrorakten in Dresden (10/2020) überlegt, wie sie mit s.g. „Gefährdern“ aus Syrien, Afghanistan etc. zukünftig umgehen will macht sichtbar, dass die politisch Verantwortlichen immer wieder zu spät, zu unkoordiniert und letztlich zu erfolglos agieren.

Jenseits dieser alljährlichen Betroffenheitsrituale gibt es auch tiefer gehende, berührende persönliche Erinnerungen als wirkliche Handlungsanleitung:
„Es waren nicht Hitler oder Himmler, die mich verschleppt haben, geschlagen und meine Familie erschossen haben. Es waren der Schuster, der Milchmann, der Nachbar, die eine Uniform bekamen und dann glaubten, sie seien die Herrenrasse.“ [Karl Stoika, Auschwitz-Überlebender]

Der Schuster, der Milchmann, der Nachbar – das sind wir alle, alle die aufstehen können gegen den alten und neuen Antisemitismus, gegen Judenhass und Ausgrenzung, gegen unbegründete und einseitige „Israel-Kritik“. Die posthume Ehrung der in der „Reichs-Pogromnacht“ beginnenden und in der Shoah gipfelnden systematischen Ermordung der deutschen und europäischen Juden ist keine alleinige Aufgabe von politischen Eliten, sondern unser aller Tagesaufgabe.

Von Gerhard Werner Schlicke

Herr Schlicke ist Autor und Freier Mitarbeiter bei den Israel-Nachrichten, er lebt und arbeitet in Deutschland.

 

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Von am 24/11/2020. Abgelegt unter Featured. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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