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Beginn der Judenverfolgung im Reich der Nationalsozialisten – Flurbereinigungen 2. Folge

Gemessen an den Zielen des Nazi-Regimes scheiterten anfangs alle Deportationsprojekte; – und mehr als Ansätze ihrer Pläne konnten Reinhard Heydrich und Adolf Eichmann nicht verwirklichen: Anstatt 30.000 Zigeuner wurden Ende April 1941 gerade mal 2.500 abgeschoben. Die Ghettorisierung der Juden gelang in höchst unterschiedlicher Weise, von den 350.000 Juden, die in den „eingegliederten Ostgebieten“ lebten, knapp 110.000. Aber die im Herbst 1939 vorgesehene „Umsiedlung“ und Vertreibung der Juden an die deutsch-sowjetische Interessengrenze stieß nicht allein auf technische Probleme und den zunehmenden Widerstand der deutschen Zivilverwaltung im besetzten Generalgouvernement.

Deportation von Juden durch die Deutsche Reichsbahn. Foto Archiv

Vor allem konnte sie deshalb nicht realisiert werden, weil unvorhergesehene Dynamiken die ursprüngliche Planung zunichte machten: Sie ergaben sich aus dem „Heim-ins-Reich“ der ethnischen Deutschen aus Osteuropa und Südtirol, zu dem sich die Nazi-Führung im Sommer 1939 vertraglich verpflichtet hatte. Gemäß diesen Verpflichtungen wurden in den folgenden fünfzehn Monaten eine halbe Million sogenannter Volksdeutscher in das mit Hilfe von Annexionen erweiterte „Großdeutsche Reich“ umgesiedelt. Von da an hieß es: „Für diese Menschen muss Platz geschaffen werden.“

Das war eine Aufgabe, die Heydrich, Himmler und Eichmann oblag. Am 6. Oktober 1939 hielt Adolf Hitler eine Rede vor dem Reichstag und erklärte und begründete die neuen Zielsetzungen seiner ethnischen Politik. Wörtlich hieß es: „Die Ziele und Aufgaben, die sich aus dem Zerfall des polnischen Staates ergeben, sind dabei, soweit es sich um die deutsche Interessensphäre handelt, etwa folgende: 1. Die Herstellung einer Reichsgrenze, die den historischen ethnographischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten gerecht wird. 2. Die Befriedung des gesamten Gebietes im Sinne der Herstellung einer tragbaren Ruhe und Ordnung. 3. Die absolute Gewährleistung der Sicherheit nicht nur des Reichsgebietes, sondern der gesamten Interessenzone. 4. Die Neuordnung, der Neuaufbau des wirtschaftlichen Lebens, des Verkehrs und damit auch der kulturellen und zivilisatorischen Entwicklung. 5. Als wichtigste Aufgabe aber: eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse, das heißt, eine Umsiedlung der Nationalitäten, so dass sich am Abschluss der Entwicklung bessere Trennungslinien ergeben, als es heute der Fall ist.

In diesem Sinne aber handelt es sich nicht nur um ein Problem, das auf den deutschen Raum beschränkt ist, sondern um eine Aufgabe, die viel weiter hinausgreift. Denn der ganze Osten und Südosten Europas ist zum Teil mit nicht haltbaren Splittern des deutschen Volkstums gefüllt. Gerade in ihnen liegt ein Grund zwischenstaatlicher Störungen. Im Zeitalter des Nationalitätenprinzips und des Rassegedankens ist es utopisch zu glauben, dass man diese Angehörigen eines hochwertigen Volkes ohne weiteres assimilieren könne. Es gehört daher zu den Aufgaben einer weitschauenden Ordnung des europäischen Lebens, hier Umsiedlungen vorzunehmen, um auf diese Weise wenigstens einen Teil der der europäischen Konfliktstoffe zu beseitigen. Deutschland und die Union der Sowjetrepubliken sind übereingekommen, sich hierbei gegenseitig zu unterstützen.“

Bereits in dieser ersten „Grundsatzerklärung“ wies der „Führer“ über den Rahmen hinaus, der für ihn mit dem „Zerfall des polnischen Staates“ abgesteckt war, und formulierte im zweiten Teil seines Monologs vor dem Reichstag die weitgehenden Absichten für den „Raum“, der nun „westlich der deutsch-sowjetischen Demarkationslinie als deutsche Einflusssphäre anerkannt“ sei. Hitler weiter: „1. Die Schaffung einer Reichsgrenze, die – wie schon betont – den historischen, ethnographischen und wirtschaftlichen Bedingungen entspricht. 2. Die Ordnung des gesamten Lebensraums nach Nationalitäten, das heißt eine Lösung jener Minoritätenfragen, die nicht nur diesen Raum berühren, sondern die darüber hinaus fast alle süd- und südosteuropäischen Staaten betreffen.“

Darüber hinaus kündigte Adolf Hitler an: „In diesem Zusammenhang ist auch der Versuch einer Ordnung und Regelung des jüdischen Problems zu unternehmen.“ Einen Tag später übertrug der Diktator die quasi praktisch-organisatorische Durchführung der „ethnischen Neuordnung“, die sich zunächst auf die schnell annektierten Regionen Westpolens beschränkte, in aller Form auf Heinrich Himmler. Der legte sich den Titel „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“ zu und gründete unter derselben Bezeichnung eine Behörde, welche die bevölkerungspolitische Aufgabe vorbereiten und in die Tat umsetzen sollte. Zur gleichen Zeit arbeiteten die Diplomaten im Auswärtigen Amt fieberhaft an den Formulierungen entsprechender Umsiedlungsverträge mit den nur noch formal selbständigen baltischen Republiken, mit der Sowjetunion und mit Italien.

Hitlers bevölkerungspolitische Absichtserklärung vom 6. Oktober 1939 hatte die Juden- und Volkstumsreferenten, die im Reichssicherheitshauptamt ihren Dienst versahen, überrascht. Zwei Tage vor der Unterzeichnung des „vertraulichen Protokolls“ zum deutsch-sowjetischen Vertrag hatte Himmler den Landesleiter der Lettlanddeutschen, Erhard Kroeger, am 26. September empfangen und ihn über das bevorstehende machtpolitische Übereinkommen zwischen Deutschland und der Union der Sowjetrepubliken unterrichtet. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch schon sicher, dass Lettland und Estland an die Sowjets fallen würden.

Noch dachte Himmler nicht an eine Aussiedlung der Baltendeutschen. Er hatte die Absicht, lediglich einen Kreis „unmittelbar gefährdeter Deutscher“ – aktive Nazis und „Volkstumskämpfer“ – in Sicherheit zu bringen. Zudem wollte er „gern wehrfähige junge Baltendeutsche in die Waffen-SS übernehmen“. Es war Kroeger, der Himmler mitteilte, wie lebendig die Angst vor dem Bolschewismus in Riga sei, wie gut sich die Deutschen dort an das Massaker vom 22. Mai 1919 erinnerten, „das die abziehenden Bolschewisten noch in letzter Stunde verübten.“

Kroeger schloss mit der Versicherung, dass der größte Teil des baltischen Deutschtums unter bolschewistischer Besatzung im höchsten Maße als bedroht angesehen werden müsste: „Keine Volkstumsführung kann es verantworten, einen Teil, wie groß oder klein auch immer, als ungefährdet zu bezeichnen und von der Ausreise auszuschließen.“

Himmler versprach, den „Führer“ in der kommenden Nacht zu informieren. Am nächsten Tag und nach hektischem Telegrammverkehr zwischen dem Auswärtigen Amt und der Deutschen Botschaft in Moskau unterzeichneten von Ribbentrop und Molotow das „vertrauliche Protokoll“ zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag, der am 23. August 1939 abgeschlossen worden war. Diverse Klauseln im „Nichtangriffspakt“ besagten, dass ganze Volksgruppen umgesiedelt werden sollten. Aber die in keiner Weise vorgesehene Umsiedlung von 60.000 Menschen wurde im Spätherbst des Jahres 1939 innerhalb von nur zwei Monaten geradezu „durchgepeitscht“!

Sie musste die bis dahin erwogenen Absichten zur Annexion und die vorgesehenen Formen rassistischer Diskriminierung radikalisieren. Exemplarisch galt dies auch für die Region Lodz, die ursprünglich nicht annektiert werden sollte. Am Vorabend des deutschen Überfalls auf Polen lebten in dieser Stadt etwa 500.000 Polen und mehr als 200.000 Juden. Nachdem sich Hermann Göring noch in den ersten Tagen des November 1939 „mit einem Verbleib von Kutno und Lodz im Generalgouvernement einverstanden“ erklärt hatte, wurde Lodz dann auf Betreiben von Werner Lorenz, einem der obersten Umsiedlungs-Funktionäre Himmlers, dem Warthegau zugeschlagen.

Mit Datum vom 13. November 1939 hieß es dazu im „Diensttagebuch“ Franks: „Reichsminister Seyß-Inquart berichtet über die Grenzziehung: Der Führer hat sich die endgültige Entscheidung vorbehalten. Das Reichsinnenministerium habe daher nur eine vorläufige Verwaltungsgrenze festgelegt. Hinsichtlich Lodz sei der Generalfeldmarschall Göring, das Oberkommando der Wehrmacht und das Reichsinnenministerium für die Einbeziehung in das Generalgouvernement gewesen: dagegen habe sich der SS-Obergruppenführer Lorenz ausgesprochen.“

Lorenz leitete die Volksdeutsche Mittelstelle, und er organisierte zu diesem Zeitpunkt gerade das „Heim-ins-Reich“ der Baltendeutschen. Da ihm Posen zur Ansiedlung der 60.000 meist großstädtischen Umsiedler nicht ausreichend erschien, wollte er zusätzlich Lodz ins Deutsche Reich „eingliedern“. Und Lorenz setzte sich de facto durch. Auch neun Monate später war noch nicht endgültig entschieden, ob Lodz und die Region Dombrowa nun zum „Großdeutschen Reich“ gehörten.

Diese formelle Entscheidung traf Adolf Hitler nie! Selbst der mächtige Vertreter Himmlers in Posen, der Höhere SS- und Polizeiführer Wilhelm Koppe, musste im Juli 1940, als er die Abschiebung der in Lodz lebenden Juden durchsetzen wollte, gegenüber Hans Frank, dem Chef der Regierung im Generalgouvernement in Krakau, zu folgendem Argument greifen: „Nachdem der Führer der vormaligen Stadt Lodz den Namen Litzmannstadt erteilt habe, sei jeder davon überzeugt, dass diese Stadt endgültig zum Warthegau gehöre und bei ihm bleiben werde..!“ Dieser Vorgang zeigt, wie die damalige Nazi-Führung „vorläufige“ Entscheidungen traf, wie Hitler reale Interessendivergenzen als ideeller Gesamtpolykrat zu überwinden suchte, und wie die Folgen solcher „Entscheidungen“, die keine waren, im Fall „Lodz“ auf die große jüdische Minderheit der Stadt abgewälzt wurden.

Wie es weitergeht erfährt die Leserschaft der Israel Nachrichten in der nächsten Ausgabe.

Von Rolf von Ameln

Rolf v. Ameln ist Buchautor, sowie IN-Korrespondent in Deutschland und Spezialist für Themen der Zeitgeschichte. Er schreibt seit 25 Jahren für die Israel-Nachrichten.

 

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Von am 21/05/2019. Abgelegt unter Spiegel der Zeit. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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