Die Befreiung und ihre Folgen
Der Sturz des „Duce“, der Übertritt Italiens auf die Seite der Alliierten und die Besetzung Südtirols und Norditaliens durch die „Großdeutsche Wehrmacht“ am 9. September des Jahres 1943 wurden von der überwiegenden Mehrheit der Südtiroler als „Befreiung von der italienischen Diktatur“ empfunden. Nach zwanzig Jahren faschistischer Herrschaft schien der langersehnte Tag der Befreiung gekommen zu sein. Doch der erhoffte Anschluss Südtirols an das Dritte Reich und damit die Wiedervereinigung Tirols blieb aus. Es kam zwar zu einer Art De-facto-Annektion, staatsrechtlich blieb Südtirol ein Teil Italiens, und zwar der neuen Schein-„Repubblica Sociale di Salo“ Mussolinis, die in Wahrheit von der Gnade der Diktatur in Berlin abhängig war. Die nachfolgenden zwanzig Monate deutscher Zivilverwaltung sind in mehrfacher Hinsicht von Interesse; es wurden teilweise Voraussetzungen geschaffen, die für den späteren Südtirol-Konflikt zwischen Österreich und Italien entscheidend waren.
Mit Befehl vom 10. September 1943 ordnete Adolf Hitler die Errichtung zweier Operationszonen im nun von den deutschen Truppen besetzten Italien an: der „Operationszone Adriatisches Küstenland“ und der „Operationszone Alpenvorland“. Letztere bestand aus den Provinzen Trient, Bozen und Belluno. Diese Regionen wurden durch die dafür eingerichtete Zivilverwaltung vom Rest Italiens abgetrennt. In den Operationszonen wurden den militärischen Befehlshabern zivile Berater zur Seite gestellt, die den Titel „Oberster Kommissar“ führten. Für die „Operationszone Alpenvorland“ war dies Franz Hofer. Er sollte in den kommenden zwei Jahren eine zentrale Rolle bei den Entscheidungen dort spielen. Hofer verfolgte eine Politik, die auf die faktische Verschmelzung mit dem Gau Tirol-Vorarlberg abzielte. Er wollte zumindest Südtirol in seinen Gau eingliedern, also eine Wiedervereinigung Südtirols erreichen.
Von Anfang an drängte er Hitler und die oberste Reichsleitung zur Annexion dieses Gebietes. Er konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Der „Führer“ nahm auf Mussolini, der am 12. September von deutschen Fallschirmjägern befreit worden war, Rücksicht – er wollte seinen Verbündeten nicht bloßstellen. Die oberste Reichsleitung verbot deshalb alle Maßnahmen, die den Eindruck einer offiziellen Annexion erwecken konnten. Südtirol blieb auch weiterhin offiziell Teil der Rebublik von Salo, auch wenn deren Einfluss gleich Null war. Mit Verordnung vom 6. November des Jahres 1943 wurde die allgemeine Wehrpflicht im gesamten Gebiet der Operationszonen eingeführt. Wer sich der Einberufung zur Nazi-Wehrmacht entzog, musste mit der Todesstrafe rechnen, und bei flucht konnten die Angehörigen als Geiseln genommen werden. In Südtirol wurden 2000 Mann starke Polizeiregimenter – „Bozen, Brixen, Schlanders, Alpenvorland“ – aufgestellt. Bei der Einberufung wurde im Grunde genommen kein Unterschied zwischen „Optanten“ – Südtiroler, die sich entschieden, in nördlichere, deutschsprachige Gebiete zu ziehen – und „Dableibern“ gemacht – tatsächlich wurden zuerst die „Dableiber“ an die Front geschickt.
Das bedeutete, dass Angehörige beider Gruppen zu deutschen Verbänden eingezogen wurden, was eindeutig dem Völkerrecht widersprach. Aber auch darum scherte sich zu dieser Zeit niemand. Jüngere Männer wurden sogar in Einheiten der Waffen-SS gezwungen. Die Polizeiregimenter, die dem SS-Gruppenführer Karl Wolff unterstellt und später in „SS-Polizei“ umbenannt wurden, setzte man in Südtirol, im Trentino oder in der Provinz Udine zur Objektsicherung und zur Bekämpfung von Partisanen ein – das Polizeiregiment Bozen wegen Verweigerung des Eides auf Adol Hitler nach Schlesien strafversetzt. Die noch im Lande verbliebenen Südtiroler dienten bei der Wehrmacht, der Polizei und dem Südtiroler Ordnungsdienst (SOD). Der SOD wurde nachträglich von den deutschen Stellen anerkannt und mit italienischen Beutewaffen ausgerüstet. Der Aufbau ging zügig voran; schon im Oktober kam man auf fast 9000 Mann. Von Anfang an gab es gnadenlosen Konkurrenzkampf um den Oberbefehl über den SOD. Wehrmacht und Polizei sowie Hofer verfolgten dabei jeweils ihre eigenen Interessen. Hofer konnte sich schließlich durchsetzen und der SOD wurde ihm unterstellt. Der SOD hatte Patroullen und Wachaufgaben durchzuführen, wurde aber auch zur Partisanenbekämpfung eingesetzt.
So wurden etwa Mitglieder des SOD im Juni 1944 an der Ermordung führender Widerstandskämpfer und auch an der Verhaftung des berühmten Trentiner Widerstandskämpfers Gianantonio Manci, beteiligt. Die 11. Kompanie des Polizeiregiments Bozen war nach der Ausbildung nach Rom verlegt worden. Rom war damals zur offenen Stadt erklärt, die deutschen Truppen zum größten Teil abgezogen worden. Auf diese Kompanie wurde am 23. März 1944 in der Via Rasella ein Sprengstoffattentat von kommunistischen Partisanen verübt, 33 Südtiroler wurden getötet. Als Vergeltung ermordeten SS-Schergen unter dem Kommando des Obersten Herbert Kappler 335 italienische Geiseln in den adriatinischen Höhlen. Die Opfer der „fosse ardeatine“ waren zwischen 14 und 75 Jahre alt. Nachdem Kapplers SS-Verbrecher das Massaker verübt hatten, wurden die Zugänge zu den Höhlen durch Sprengungen verschüttet. Die Erschießung von Geiseln hätte nach den geltenden Gebräuchen von der betroffenen Einheit, also der Bozener Kompanie, durchgeführt werden sollen, aber deren Kommandeur weigerte sich mit der Begründung, seine Männer seien katholisch und zudem ältere Jahrgänge, die es nicht über sich brächten, auf wehrlose Geiseln zu schießen. In den 1990er Jahren war dieses Massaker Thema der italienischen Justiz.
Auch wenn in den Operationsgebieten die italienische Gebietshoheit und die Staatshoheit formell unangetastet blieben und die Lira gesetzliches Zahlungsmittel blieb, hatten die Nazibehörden praktisch die Macht übernommen und sorgten für entsprechende Erleichterungen gegenüber den Südtirolern. Hofer verfügte schon im September 1943 die Gleichstellung der deutschen neben der italienischen Sprache. Von nun an konnte überall wieder legal in der Öffentlichkeit deutsch gesprochen werden; beide Sprachen waren gleichberechtigte Amtssprachen. Auch die deutschen und ladinischen Ortsnamen wurden wieder eingeführt und neben den italienischen Ortsnamen angebracht. Woh auf Rücksicht auf die Republik von Solo wurden die italienischen Ortsnamen beibehalten. Die Podesta wurden durch örtliche Bürgermeister ersetzt; die Kinder der „Dableiber“ konnten nun auch die deutsche Schule besuchen, die jetzt zu einer „normalen“, alle Fächer umfassenden Schule wurde. Was jedoch die meisten Menschen bis heute nicht wissen, ist die Tatsache, dass Hitler und Mussolini bereits im Jahre 1939 ein Abkommen unterzeichneten, das etwa 250.000 Südtirolern und Landinern die Aussiedlung ins „Großdeutsche Reich“ nahelegte – „Option“ – ? Die so genannten „Dableiber“ wurden italianisiert. Bis zum heutigen Tage sind die Folgen in politischer Hinsicht zu spüren.
Und was machte die NS-Vernichtungsmaschinerie in Südtirol? Bis zum Jahre 1943 konnten Juden im faschistischen Italien mehr schlecht als recht, aber doch n o c h überleben. Das änderte sich mit dem Einmarsch der Wehrmacht Hitlers. Die einzige organisierte jüdische Gemeinde in der Operationszone gab es in Meran, wo zum Zeitpunkt des deutschen Einmarsches noch 60 Mitglieder lebten. Die übrigen waren schon vorher weggezogen. Bereits am 16. September wurden 24 von ihnen vom SOD unter Führung der Gestapo verhaftet. Sie wurden in das Lager Reichenau bei Innsbruck verbracht. 19 von ihnen wurden in Auschwitz ermordet, 4 starben in Reichenau, eine Frau überlebte. Den wenigen Juden in Brixen erging es ähnlich. Darüber hinaus wurden 350 „Geisteskranke“ ermordet, und aus den Südtiroler Dörfern „verschwanden“ auch andere geistig und körperlich Behinderte. Im Jahre 1944 wurde vor den Toren Bozens ein so genanntes Polizeidurchgangslager errichtet, das im Volksmund „KZ-Sigmundskron“ genannt wurde. Bis zum Mai des Jahres 1945 wurden rund 11.000 Menschen auf dem Weg in die großen Mordfabriken der Nazis, Mauthausen, Dachau und Auschwitz durch dieses Lager geschleust. In „Sigmundskron“ selbst wurden auch Exekutionen durchgeführt; – zeitweise wurden dort 4000 Menschen in „Gefangenschaft“ bei unmenschlichen Bedingungen gehalten.
Von Rolf von Ameln
Redaktion Israel-Nachrichten.org
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